Mobilitätsratgeber für Jungfamilien
(inklusive werdenden und geplanten)
Vorwort: Anlass und Zweck
Ergebnissen aus der Mobilitätsforschung zufolge kommt es häufig vor, dass junge Erwachsene zunächst ein differenziertes Mobilitätsverhalten aufweisen und oft auch ohne eigenes Auto auskommen, dem positiven Schwangerschaftstest aber sehr bald der Kauf eines "Familienautos" folgt und die Familienmobilität schlussendlich wieder sehr autozentriert abgewickelt wird. Nachdem ich Verkehrsplaner mit Schwerpunkt öffentlicher und nicht motorisierter Verkehr bin und ingesamt etwa drei Karenzjahre der Betreuung meiner Kinder (Jahrgänge 2002 und 2005) gewidmet und dabei teils am Land und teils in der Großstadt gewohnt habe, hat mich dies dazu angeregt, diesen Ratgeber zu verfassen. Er ist all jenen gewidmet, die für den kommenden Lebensabschnitt als Familie verschiedene Optionen für das zukünftige Mobilitätsverhalten erwägen und soll zur Beantwortung folgender Fragen beitragen:
- Welche Verkehrsmittel sollen bei uns welche Rolle spielen?
Hier soll nicht ein propagiert werden, so "autofrei" zu leben, wie einE VegetarierIn nie Fleisch isst. Viel mehr geht es um ein Spektrum von einem gelegentlich geborgten Großfamilienauto bis zu zwei täglich gebrauchten Pkw plus zwei Mopeds für eine Kleinfamilie mit zwei Jugendlichen.
- Welche Tricks und Hilfsmittel erleichtern die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel sowie das zu-Fuß-Gehen und Radfahren mit Kindern?
- Was ist im Zusammenhang mit Familienmobilität noch alles zu bedenken?
Nachdem nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder verschieden sind und daraus eine endlose Fülle verschiedenartiger Eltern-Kind-Beziehungen entsteht, sind vor allem jene Ratschläge, die in Zusammenhang mit kindlichem Verhalten stehen, stets relativ zu sehen und werden nie für alle Kinder zutreffen. Aus dem selben Grund bemerken oft gerade solche Eltern, die sich das Familienleben zuvor recht detailreich ausgemalt und geplant haben, dass die Realität recht anders (das heißt nicht unbedingt schlechter!) aussehen kann. Daraus lässt sich bereits der Ratschlag ableiten, vor der Familiengründung und evtl. auch in den ersten Jahren möglichst wenige langfristige, weitgehend unumkehrbare Entscheidungen zu treffen und große Investitionen durchzuführen.
Was alles mit dem Mobilitätsverhalten zusammenhängt
Unterschiedliches Mobilitätsverhalten bedeutet viel mehr, als die Frage, mit welchem Verkehrsmittel eine bestimmte Wegstrecke zurückgelegt wird. Eine grundsätzliche Ausrichtung auf öffentlichen Verkehr, Auto oder Fahrrad sowie die Verkehrserschließung des Wohnsitzes haben folgende weiterreichenden Auswirkungen:- Welche Wege zu welchen Aktivitäten können überhaupt unternommen werden?
- Wohin wird gefahren/gegangen - zum Einkaufen beispielsweise ins Ortszentrum oder ins Fachmarktzentrum?
- Wie sieht der Tages- und Wochenablauf aus? Was wird mit, was ohne Kinder unternommen? Muss man zum Tagschlaf zuhause sein?
- Gewöhnen sich meine Kinder auch an mittlere und längere Fußwege und lernen sie, sich selbständig zu orientieren?
- Können meine Kinder als Jugendliche ihre Ziele selbst erreichen, oder muss ich ständig Kindertaxi spielen?
Rahmenbedingungen der familiären Mobilität
Wohnstandort und wichtigste Fahrziele
Die für die Mobilitätsoptionen entscheidendste Rahmenbedingung ist die Wahl des eigenen Wohnstandorts im Bezug zu den wichtigsten Fahrzielen. Leider wird gerade diese Entscheidung häufig zu früh, ungünstig und finanziell praktisch irreversibel getroffen: Das selbst (mit)gebaute und auf Kredit finanzierte Einfamilienhaus abseits von Nahversorgung und öffentlichem Verkehr wieder aufzugeben wäre meist mit großen Verlusten verbunden.
Ein verkehrlich günstiger Wohnstandort bedeutet zunächst, eine Haltestelle des Öffentlichen Verkehrs in fußläufiger Entfernung zu haben - je nach Ausdauer also etwa 300-1000 m. Wichtige Versorgungs- und Dienstleistungseinrichtungen sollten möglichst auch direkt zu Fuß erreichbar sein, insbesondere wenn das öffentliche Verkehrsmittel lange Intervalle oder kurze Betriebszeiten aufweist.
Dass städtische Gebiete besser versorgt und erschlossen sind, als ländliche, ist generell zweifellos richtig, im Einzelfall kann jedoch eine Einfamilienhaussiedlung am Rand einer Großstadt schlechter dastehen, als eine kompakte ländliche Kleinstadt. Zur Prüfung des Einzelfalls empfiehlt es sich daher dringend, gründlich die Fahrpläne zu studieren: Nicht nur Bushaltestellen können sich als Schulbushaltestellen entpuppen, auch was in einer Immobilienannonce als "S-Bahn-Anschluss" bezeichnet ist, ist manchmal eine Regionalbahn ohne Verkehr abends und am Wochenende. Am besten beurteilt man die Fahrplanqualität anhand der wichtigsten persönlichen Fahrtziele mithilfe der "Fahrplanheft"-Funktion der Online-Fahrplanauskünfte, mit der man nicht nur die aktuell jeweils nächsten Verbindungen angezeigt bekommt, sondern alle Verbindungen des Tages inkl. Fußnoten für Wochenende, Feiertage etc. (siehe ÖBB,DB oder SBB, enthalten zumeist auch Busse und Stadtverkehr). Bei den möglichen Fahrzielen sollte beispielsweise auch daran gedacht werden, dass heutzutage praktisch kein Arbeitsplatz mehr hundertprozentig sicher ist, man also auch überlegen sollte, wo am ehesten andere potenzielle ArbeitgeberInnen angesiedelt sein könnten. Zumindest in den ersten Jahren ist auch der Kinderarzt oder die Kinderärztin ein relativ häufiges Fahrziel, das tunlichst auch ein Elternteil ohne Hilfe des zweiten erreichen und dabei auch noch etwaige Geschwister mitnehmen können sollte. Gerade wenn man mit Baby oder Kleinkind aus der bisherigen Wohnumgebung wegzieht, sollte man sich auch darüber Gedanken machen, wie man für BesucherInnen erreichbar ist, um Vereinsamungsgefühlen vorzubeugen.
Vor einem praktisch nur per Auto (oder Fahrrad) erreichbaren Wohnstandort kann nur eindringlich abgeraten werden: Jeder Ausfall sowohl eines Fahrzeugs, als auch der Fahrtüchtigkeit der Person, die es lenken soll, wird hier zum Problem. Was soll man da beispielsweise tun, wenn man von der Ärztin für sechs Wochen ein Medikament verschrieben bekommt, das die Reaktionsfähigkeit einschränkt? Oder wenn es zwar Großeltern gibt, die auf das krank gewordene Kind aufpassen könnten, auf deren Auto aber noch immer keine Winterreifen montiert wurden? Selbst wenn man allerlei solche Kalamitäten gemeistert hat, wird eine solche Lage spätestens dann zum Bumerang, wenn die Kinder lange vor dem Führerscheinalter reif für diverse Nachmittagsaktivitäten geworden sind und zumindest ein Elternteil laufend mit Bring- und Holdiensten beschäftigt ist.
Auch bei optimaler Lage des Wohnstandorts ist in der frühen Kindheit ein Ausstattungsmerkmal sehr wichtig: Ein Lift, sofern die Wohnung nicht ebenerdig liegt. Kind und eventuelles Gepäck über Stiegen zu schleppen ist nicht nur mühsam, sondern verunmöglicht oft auch Aktivitäten am Abend oder zur Tagschlaf-Zeit, weil das Kind dabei viel eher und nachhaltiger aufwacht, als wenn man es einfach im Kinderwagen liegen lassen oder nur über eine kurze Strecke ins Bett umlegen kann.
Alter des Kindes bzw. der Kinder
Die den Tagesablauf und das Mobilitätsverhalten beeinflussenden Bedürfnisse von Kindern ändern sich laufend mit deren Alter, wobei folgende Kriterien zu erwähnen sind:
- Häufiges und möglichst unverzügliches Stillen sowie auch das Stillen verschiedenster sonstiger Bedürfnisse (Tragen, Spielen, Kuscheln, Wickeln...) sind vor allem im ersten Lebensjahr relevant
- Während sich der Schlaf von Neugeborenen relativ gleichmäßig über Tag und Nacht verteilt, pendelt sich bald ein Rythmus von zuerst zweimal Tagschlaf und dann einmal Tagschlaf ein, bis zumeist irgendwann im mittleren Kindergartenalter auch dieser Tagschlaf obsolet wird, weil das Kind tagsüber nicht mehr einschläft. So wie auch Erwachsene manchmal tagsüber schlafen gibt es freilich auch bei Kindern Ausnahmen, etwa wenn der Nachtschlaf zu kurz oder eine Aktivität sehr ermüdend war sowie insbesondere bei längeren Fahrten mit Verkehrsmitteln, die eine einschläfernde Fahrdynamik aufweisen. Viel schlafende Babies im ersten Halbjahr können noch recht problemlos zu Veranstaltungen (z.B. Uni-Vorlesungen) mitgenommen werden, wenn sie beispielsweise berechenbar schlafen, nachdem sie gestillt und ins Tragetuch gesteckt wurden.
- Während das Wickeln längere Zeit aufgeschoben werden kann, muss gerade in der Zeit nach dem Erreichen der Windelfreiheit oft sehr schnell ein Klo (im weitesten Sinne des Wortes) her.
- Einen starken Bewegungsdrang haben grundsätzlich Kinder in jedem Alter, allerdings kann er doch tendenziell umso kürzer unterdrückt werden, je jünger das Kind ist. Während es in den ersten Monaten naturgemäß reicht, wenn das Baby strampeln darf, beginnt etwa im zweiten Halbjahr das unersättliche Krabbelbedürfnis und im zweiten Lebensjahr laufen manche Kinder wie der Duracell-Hase.
- Die zunehmende Selbständigkeit der Kinder beginnt ab dem späten Kindergartenalter auf das Mobilitätsverhalten zu wirken, wenngleich konkrete Altersangaben insofern schwierig sind, als verschiedene Eltern je nach Rahmenbedingungen verschieden vorsichtig sind. Während es für Kleinstkinder noch eher eine willkommene Abwechslung darstellt, zu verschiedensten Besorgungen mitgenommen zu werden, werden später manche Aktivitäten zuhause bereits attraktiver oder wollen nicht unterbrochen werden. Irgendwann ist dann der Zeitpunkt gekommen, dass das Kind kurze Zeit alleine zuhause bleiben darf und später stehen die ersten alleinigen Wege auf der Tagesordnung: Zuerst im unmittelbaren Wohnumfeld, dann auf Routinewegen zur Schule oder zu Freunden und im Teenageralter auf vielfältigen Wegen in einem zunehmend größerem Aktionsradius. Dabei zeigt sich immer wieder, dass Kinder, die es gewohnt sind, gewisse Entfernungen zu Fuß zu gehen und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, selbständiger untwerwegs sind und es ihnen leichter fällt, sich zu orientieren und Entfernungen einzuschätzen.
Anzahl der Kinder und Betreuungsformen
Bei mehreren Kindern sind naturgemäß verschiedene Bedürfnisse zu berücksichtigen. Am anspruchsvollsten sind dabei wohl Zwillinge im Kinderwagenalter, aber auch noch bei 3-4 Jahren Altersunterschied kann es durchaus vorkommen, dass auch das ältere Kind während eines Tagschlafs einen Kinderwagen gut brauchen könnte.
Nachdem Bewegung Ortsveränderung pro Zeit bedeutet, haben auch Zeitbudgets und Zeitmanagement große Bedeutung für das Mobilitätsverhalten. Aus diesem Blickwinkel hat die Arbeitsteilung in der Familie und mit außerhäuslichen Betreuungsdiensten großen Einfluss: Im Fall von Karenzurlaub eines oder Teilzeitarbeit beider Elternteile ist für Aktivitäten, zu denen man das Kind mitnehmen kann, Zeit in Hülle und Fülle vorhanden. Die Notwendigkeit eines täglichen Einkaufs stellt hier geradezu einen willkommenen Anlass dar, die Wohnung zu verlassen. Diese Abwechslung kann mit Spaziergang und Spielplatzbesuch in die Länge gezogen werden und im Idealfall kommt man um die Mittagszeit mit einem schlafenden Kind im Kinderwagen nach Hause und hat ein kostbares Stück Zeit "für sich" gewonnen - oder auch nur für jene Haushaltstätigkeiten, die neben dem noch recht kleinen Kind nicht recht machbar sind. Arbeiten hingegen beide Eltern (fast) Vollzeit, so wird bald einmal die Zeit als knapp empfunden, die man voll und ganz seinem Kind widmen kann. Der Haushalt funktioniert in diesem Szenario ohnehin meist nur mit bezahlter externer Hilfe.
Alleinerziehende (egal ob vom anderen Elternteil getrennt oder bloss von diesem mit Kinderbetreuung und Haushalt alleine gelassen) sind grundsätzlich ebenso in hauptsächlich Kinder betreuende und hauptsächlich Erwerbstätige einzuteilen. Im Vergleich zu paarweise erziehenden besteht zumeist entweder mehr Vereinsamung und Unterforderungsfrust, oder mehr Stress und das Gefühl, das eigene Kind zuwenig zu sehen, sowie ein noch größerer Mangel an kinderloser Freizeit und bei unzureichenden Unterhaltszahlungen ein stark eingeschränkter finanzieller Spielraum.
Kinder- und Alltagsverträglichkeit von Verkehrsmitteln